Annie Lennox (berühmt in den 80er Jahren als Sängerin von Eurythmics, «Sweet Dreams») hat ihre Diagnose mit 70 Jahren erhalten. Was hat jemand in diesem Alter davon? In ihrem Buch schreibt sie: Viele innere Kämpfe, die sie seit Jahren begleiteten, seien für sie dadurch nun endlich greifbar. Fügt aber hinzu: “Es ist nicht nur belastend, sondern auch eine Superkraft.”
Derzeit sind vor allem Frauen, die ihre Diagnose meist erst dann erhalten, wenn ihr Sohn (!) eine Diagnose erhält. Ich möchte nicht ausschliessen, dass Männer mit unaufmerksamen Typ des ADHS auch betroffen sind und es auch dort einen Nachholbedarf gibt. Laut Schätzungen von Expert:innen wie Alexandra Philipsen (Uni Bonn) wurden vor zwei Generationen nur 1% der Betroffenen diagnostiziert. ADHS ist nicht häufiger in den letzten 30 Jahren, aber deutlich häufiger erkannt (also diagnostiziert). Bisher wurde also nur die Spitze des Eisberges sichtbar: wilde Jungs, die die Schulklasse stören.
Welche Gruppen sind unterdiagnostiziert?
Aufgrund von Studien ist bekannt, dass weitere Gruppen unterdiagnostiziert sind: Solche mit hohem IQ, resp. solche, die gut in der Schule waren. Hier weiss ich etliche Beispiele von klugen Frauen, denen die Diagnose abgesprochen wurde. Oft war es so, dass sie nicht belegen konnten, dass sie vor dem 12 Lebensjahr Symptome hatten. Dies ist aber ein Muss-Kriterium. Wenn damals aber die Strategien griffen (z.B. durch intelligente Strategien, durch ein beschützendes Umfeld) kamen diese nicht zum Vorschein.
Statt dass ihnen ADHS-Diagnose gegeben wird, erhalten sie dann «schlimmere» Diagnosen wie, bipolare Störung, Depression, Demenz, Borderline-, Angst- oder Persönlichkeitsstörung.
Selbst wenn diese (zusätzlich) vorliegen würde, sind diese Störungen schlecht behandelbar, wenn das ADHS nicht behandelt wird.
Quasi: Wer nicht zappelt, hat kein ADHS. Dabei findet ADHS vor allem im Kopf statt. Der Nachteil ist: Wer Strategien entwickelt, dass die ADHS-Symptome nicht auffallen, wird nicht erkannt und so kann nicht geholfen werden. Da diese Mechanismen aber viel Energie kosten, führt es unweigerlich zur Erschöpfung.
Zudem erhalten ältere Menschen und People of Colour seltener eine Diagnose aufgrund von Vorurteilen.
Wer hat ADHS? Nicht nur Jungs, nicht nur Zappelphilippe, nicht nur solche, die Mühe mit der Schule haben oder mit Aufmerksam sein (Bild Dani Donovan https://adhddd.com)
Warum bleibt ADHS (und Autismus) so oft unerkannt?
• Frauen und Mädchen: Maskieren, anpassen, still leiden. ADHS „ohne Zappeln“ wird oft übersehen.
• Hochbegabte oder Scanner-Typen: Man sieht nur, was funktioniert, nicht den Preis, den sie zahlen.
• Sensibel, empathisch, schnell überreizt: Wird oft als „emotional labil“ oder „hysterisch“ fehlgedeutet.
• Kompensation durch Perfektionismus oder Helfer-Rollen: Viele haben Jahrzehnte über ihre Grenzen hinaus gelebt.
Das ADHS-Spektrum ist nicht laut – sondern vielfältig, leise, widersprüchlich. Und genau deshalb wird es so oft erst spät erkannt.
Erkenntnisschock
Eine Eigenschaft, die schon immer da war, wird durch die Diagnose sichtbar – und erklärt plötzlich so vieles.
Einerseits entlastet das– aber es erschüttert oft wie ein Erdbeben im Selbstbild.
Häufige emotionale Reaktionen darauf sind:
• 😇 Erleichterung – Endlich eine Erklärung für jahrzehntelanges „Anders sein“.
• 😇 Entlastung – Das «nicht können « ist nicht mehr ein «Nicht wollen» sondern hat eine Ursache
• 😢 Trauer – Um verpasste Chancen (Bildung, Beruf, Karriere), um die eigene Kindheit.
• 😠 Wut – Auf Eltern, Lehrer:innen oder Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen, die es „nicht gesehen“ haben.
• 🤯 Überforderung – Der Drang, alles auf einmal zu verstehen und das Verpasste nachzuholen. Auf viele widersprüchliche Aussagen zu ADHS treffen.
• 🤥 Verunsicherung: Habe ich es wirklich oder habe ich getrickst? Die Angst, dass die anderen doch recht hatten und es doch Faulheit, mangelnder Wille etc. ist.
Wie kann nach der Diagnose weitergemacht werden?
🧠 Die Erkenntnis verändert alles – aber es kann nicht alles auf einmal umgesetzt werden.
Hier sind fünf Schritte, die andere Betroffene als besonders hilfreich erleben:
1️⃣ Langsam eintauchen – Schritt für Schritt
Du musst nicht alles auf einmal verstehen. Fang mit einem Thema an – z. B. Emotionsregulierung, ADHS-Tools oder Reizfilter.
2️⃣ Nicht allein damit bleiben
Tausche dich mit Menschen aus, die den gleichen Weg gehen. In der Community bist du nicht „zu viel“, sondern genau richtig.
3️⃣ Die eigene Biografie neu schreiben – mit Selbstmitgefühl
Sieh nicht nur die „Fehler“, sondern auch, wie genial du dich durchs Leben improvisiert hast.
4️⃣ Neue Strategien, neue Routinen
ADHS-freundliche Tools können das Leben leichter machen. Ob Du das in einer ADHS-Gruppen, über Social Media /Webseiten (z.B. ADHS-lexikon) oder Coaching machst, hat mit Deiner Art zu lernen zu tun.
5️⃣ Professionelle Begleitung als zusätzliche Unterstützung
ADHS-Coaching, Medikation oder Therapie – Nicht weil du „kaputt“ bist – sondern weil du jetzt weisst, dass Du andere Strategien brauchst.
Inspirationsquelle:
Dr. Martin Winkler ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ADHS-Coach und selbst neurodivergent. Seit 1998 begleitet er Erwachsene mit ADHS als Psychiater, Therapeut und Coach und ist zudem Vater von zwei neurodivergenten Kindern.
Seine Mission ist es, ADHS nicht nur als Störung zu verstehen, sondern als eine andere Art, die Welt zu erleben – mit all ihren Herausforderungen, aber auch mit ihren Stärken. Er betreibt die ADHSSpektrum-Community, eine Plattform für ADHS.
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