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Ist es Aufschieberitis oder stressbedingtes Erstarren?

Wenn Du nicht ins Tun kommst, aber etwas tun möchtest (oder unbedingt solltest), sieht es wie Misslingen und Faulheit aus.
In diesem Artikel will ich aufzeigen, dass es viel komplexer ist, nichts mit Faulheit zu tun hat und aufzeigen, was wirklich hilft dagegen. Und wie erkannt werden kann, ob es sich um Aufschieberitis oder stressbedingtes Erstarren handelt.

Kurzversion:

  • Erstarren ist eine Reaktion des Hirns auf Stress.
  • Druck ist kontraproduktiv.
  • Die Lösung ist nicht mehr Druck, sondern Sicherheit.
  • Kleine Bewegungen, klare (gut erreichbare) Ziele und Selbstmitgefühl helfen. Damit wird das Dopamin reguliert und das Cortisol (Stresshormon) gesenkt. Das hilft dem Nervensystem, wieder ins Handeln zu kommen.

Im Folgenden geht es um den Unterschied zwischen Prokrastination (Aufschieberitis) und Erstarren:

A was ist was?
B Wie zeigt es sich im Leben?
C Was passiert im Gehirn?
D Was kann getan werden?

A Prokrastination oder Erstarren?

Prokrastination ist verursacht durch einen inneren Konflikt zwischen kurzfristiger Belohnung und langfristigem Nutzen. Dies kann sein, wenn eine Aufgabe z.B. langweilig wirkt, wenig greifbar ist oder emotional unangenehm erscheint.

Erstarren ist neben den bekanntesten Stressreaktionen – Fight or flight, also Kämpfen oder Fliehen- eine weitere Reaktion. Sie wird freeze genannt, wörtlich einfrieren, es geht aber um Lähmung (wie in vor Angst gelähmt) oder Blockade. In der Tierwelt ist das Sich-Tot-Stellen eine Variante. In der Psychiatrie kann v.a. schwere Depression als freeze angesehen werden.
Ist das Hirn unter Stress werden die motivierenden Kreisläufe unterbrochen. Der präfrontale Kortex (zuständig für Planen etc.) verliert den Kontakt mit der Amygdala (zuständig für Gefühle und insbesondere Furcht). Die Folge ist ein Erstarren.

Kurzversion zum entscheidenden Unterschied
Prokrastination bedeutet, die Aufgabe wird bewusst verschoben.
Erstarren bedeutet, die Aufgabe ist derzeit nicht zugänglich.
Bei Prokrastination ist der Wille gering, aber die Fähigkeit vorhanden.
Beim Erstarren ist der Wille hoch, aber die Fähigkeit blockiert. Das Gehirn ist dabei nicht unwillig, sondern schlicht nicht zugriffsbereit.

B Wie zeigt es sich im Leben?

Prokrastination bedeutet ein aktiver (bewusster) Aufschub. Ziel ist eine kognitive oder emotionale Ablenkung. Gründe können im Druck von aussen liegen. Ein Zeichen sind innere Dialoge. Die Ursache kann sein, dass aufgrund von Dopamin die Aufmerksamkeit sich verschiebt (von einer Tätigkeit, die wenig Dopamin produziert zu einer die mehr produziert).
Erstarren bedeutet, dass man überwältigt ist, nur noch funktioniert (aber nicht mehr plant und gestaltet). Alles scheint erstarrt zu sein (Denken, Handeln), der Körper fühlt sich schwer an. Das Gehirn ist überlastet.
Erstarren bedeutet ein zeitweiliges Versagen exekutiver Funktionen, ausgelöst durch Überforderung, Entscheidungskomplexität, Stress oder emotionale Anspannung.

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C Was passiert im Gehirn?

Amygdala und Präfrontaler Kortex

Der präfrontale Kortex ist für exekutive Funktionen wie Planung, Handlungsstart und Priorisierung zuständig. Ausserdem reguliert er Emotionen und macht Langzeitentscheidungen.

Die Amygdala ist das Alarmzentrum des Gehirns. Sie ist extrem schnell – innerhalb von Millisekunden – in der Lage, Situationen zu bewerten und potenzielle Gefahren zu erkennen. Sie kreiert intensive Emotionen und aktiviert die Stressreaktion.

Die Amygdala funktioniert wie das Gaspedal unserer Angstreaktion, während der präfrontale Kortex wie das Bremspedal wirkt. Unter normalen Bedingungen übt der präfrontale Kortex eine hemmende Kontrolle über die Amygdala aus. Das bedeutet: Er hemmt die Amygdala-Aktivität und hindert sie daran, zu viele emotionale Reaktionen auszulösen.

Da für das Überleben das Erkennen von Gefahr und eine entsprechende Stressreaktion entscheidend sind, übersteuert die Amygdala den präfrontalen Kortex, der bei Stress und Überlastung kurzfristig „vom Netz“ genommen wird. Wird die Amygdala überaktiv, vermehrt sie ihre Zellen stärker und ihre Verbindungen zu anderen Hirnregionen werden gestärkt. Sie wird sozusagen leicht reizbar und reagiert auf immer harmlosere Reize.

Der präfrontale Kortex wird geschwächt:

Die Verbindungen zwischen dem präfrontalen Kortex und der Amygdala verändern sich. Eine Schlüsselstudie zeigte, dass unter chronischem Stress die Glutamat-Freisetzung (ein erregender Botenstoff) von präfrontalen Nervenfasern zur Amygdala zunimmt. Dies verschiebt das Gleichgewicht zwischen Erregung und Hemmung zugunsten der Erregung – die Amygdala wird noch leichter aktiviert.
Eine negative Rückkopplungsschleife entsteht: Die vergrößerte und überaktive Amygdala führt zu verstärkten Angstreaktionen, die wiederum zu stärkeren Stresshormonen führen, die das Gehirn noch mehr in Alarmbereitschaft versetzen.

Diese neurobiologischen Prozesse haben konkrete Folgen:

Unter moderatem Stress ist es leichter fokussiert und motiviert zu sein. Probleme können gut gelöst werden. Die Gedächtnisleistung steigt.

Unter starkem, chronischem Stress: Das Urteilsvermögen ist beeinträchtigt. Es werden schlechtere Entscheidungen getroffen, weil der präfrontale Kortex geschwächt ist. Die Reizbarkeit und Nervosität steigen. Das Gedächtnis leidet – der Hippocampus, zuständig für Lernen und Erinnerung, produziert unter andauerndem Stress weniger Gehirnzellen

Bei Handlungsblockade: Es entsteht ein Gefühl, gelähmt und hilflos zu sein und unfähig zu handeln – auch wenn rational Lösungen existieren würden. Dies kann zu Depressionen und Angststörungen führen.

Warum das Gehirn bei ADHS leichter in die Paralyse rutscht
Menschen mit ADHS haben aufgrund neurobiologischer Besonderheiten häufiger Situationen, in denen Arbeitsgedächtnis, Stressregulation und Handlungsstart schnell überlastet sind. Die Gründe dafür sind gut erforscht:

• Das dopaminerge System reagiert empfindlicher auf Druck und Überforderung
• Der präfrontale Kortex kollabiert unter Stress schneller
• Entscheidungen und Priorisierung benötigen mehr „mentale Energie“
• Komplexe Aufgaben erzeugen schneller Chaos im Arbeitsgedächtnis
• Perfektionismus oder Angst vor Fehlern können unbewusst blockieren
• Zu viele Reize gleichzeitig erzeugen „Systemüberhitzung“

D Was bei Erstarren wirklich hilft

Bei Erstarrung braucht es eine Entlastung für das Nervensystem, nicht mehr Druck.
Sinnvoll sind Strategien, die den Überlastungszustand direkt reduzieren:
• Reize reduzieren (optisch, akustisch, sozial)
• die Aufgabe so in Unteraufgaben unterteilen, dass der Start lächerlich leicht wird
• Körper in Bewegung bringen
• kurze Atem- oder Reset-Momente
• Co-Regulation, z. B. durch Body Doubling
• Methoden, die emotionale Spannung abbauen
• ein klarer Startknopf wie „5-4-3-2-1 – los“
• Mini-Erfolge sofort markieren
• innere Erlaubnis, erst Energie aufzubauen, dann zu leisten

Hier steht nicht Produktivität im Vordergrund, sondern Funktionsfähigkeit. Erst wenn das System wieder im grünen Bereich ist, kann der Handlungsstart überhaupt stattfinden.
Produktivität wächst, wenn nicht Druck der Antreiber ist, sondern wenn sich der Körper sich in Sicherheit fühlt. Und dann kommt auch das Denken wieder in Gang.

Noch konkreter: Wie setze ich das um?

a) Kleine Bewegungen:
Stretching, Fidget toys, Tanzen zu einem einzigen Song.

b) klare (gut erreichbare) Ziele
eine kleine Fläche aufräumen (zeitlich beschränken) oder grosse Ziele herunterbrechen mit Goblin.tools.

c) Selbstmitgefühl

Affirmationen (positive Botschaften an sich selbst). Sich gut zureden (wie zu einer guten Freundin) .“Gut genug ist genug“.
=> Es gibt viele Unterlagen dazu auf der Webseite von Dr. Kirstin Neff, der führenden Person in diesem Feld.
Studie: Neff, K. D., & Germer, C. K. (2013). A pilot study and randomized controlled trial of the mindful self-compassion program. Journal of Clinical Psychology, 69(1), 28–44.

Aufschieben bis zum Erstarren

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